geb. 22. Dezember 1879 in Jerusalem

Ehepartner:

Katz, Maria Gertrud

Eltern:

Katz-Sänger, Fanny, geb. Weißenstern
Katz-Sänger, Michael

Kinder:

Raisch, Else
Raisch, Charlotte
Raisch, Kurt

Beruf:

Kaufmann

Adressen:

Yburgstraße [Hermann-Sielcken-Straße] 7 (von München kommend, 1934-1940, nach Berlin)

Bild(er):

Leidensweg durch Nationalitätenwirrwarr und unter nationalsozialistischem Terror
Zahlreiche Unterstützer waren für das Überleben erforderlich, einige werden hier genannt.

Abraham Katz-Sänger wurde 1879 in Jerusalem im Osmanischen Reich geboren. Seine jüdischen Eltern Michael Katz-Sänger und Fanny Katz-Sänger geb. Weißenstern waren Ende des 19. Jahrhunderts mit der ersten Alija genannten Einwanderung aus Osteuropa nach Palästina gelangt. Sie stammten aus einem deutsch-sprachigen Gebiet des Königreichs Ungarn ("Nagy-Sratoly"), welches nach dem Zweiten Weltkrieg an Rumänien oder die Ukraine fiel. Der Namensbestandteil Katz (,KaZ‘) steht üblicherweise für den hebräischen Titel Kohen Zedek "gerechter Priester" und sollte nur von jüdischen Gläubigen getragen werden.
Abraham wuchs deutsch-sprachig bei seinen Eltern im multikulturellen Jerusalem auf und übernahm von ihnen die ungarische Staatsbürgerschaft. Er erlebte die zunehmenden Spannungen zwischen den in Palästina unter osmanischer Herrschaft stehenden arabischsprachigen Völkern und den weiterhin einwandernden Juden. Das System des Osmanischen Bodenrechts hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts verhängnisvolle Folgen für Palästina: Durch die Umwandlung des öffentlichen Landes in privaten Agrarbesitz verschärfte sich die Armut der Bauern.
Mit 22 Jahren wanderte Abraham 1901 nach Deutschland aus, wo er sich bessere Lebensbedingungen erhoffte. Zwischen 1901 und 1904 ging er einer kaufmännischen Lehre bei der Firma Anselm Kahn, Textilwaren en gros, Frankfurt a. M. nach. Danach war er als Kaufmann in der Weingroßhandlung J. Ansbacher und später für die Weingroßhandlung Kellermann & Söhne in Bamberg und bis 1909 in Würzburg tätig. 1909 begann er Botendienste beim Leseverleih Diehl in Neuss. Dort lernte er seine spätere Frau Mia kennen.

Maria Gertrud Diehl, genannt Mia, wurde 1892 im niederrheinischen Dorf Gohr geboren. Ihr Vater Heinrich Diehl betrieb dort bis ca. 1899 eine eigene Poststation. Als die Deutsche Reichspost auch in diesem Dorf den Postbetrieb übernahm, übersiedelte Mia im Alter von 7 Jahren mit ihren Eltern in die Stadt Neuss und besuchte dort die Schule. Ihr Vater betrieb nun einen Lesezirkel in Neuss. Mit 17 Jahren begegnete sie im elterlichen Betrieb dem Boten Abraham Katz-Sänger. Die Eltern verweigerten ihren Segen für eine Mischehe mit einem ungarischen Juden. Mit etwa 18 Jahren floh die verliebte Tochter aus dem Fenster über das Dach ihres Mietshauses zu Abraham, gemeinsam wanderten sie nach Holland und Norddeutschland.
Mit Einführung der standesamtlichen Eheschließung wurden seit 6. Februar 1875 Mischehen in Preußen möglich, vorher gab es nur konfessionskonforme kirchliche Trauungen. Beide waren auch ehemündig. Allerdings benötigte Mia zur Eheschließung die Zustimmung ihres Vaters. Daher lebten sie unverheiratet. Im Februar 1911 bekamen sie in Hamburg die uneheliche Tochter Else Fanny Sänger, die katholisch getauft wurde und die ungarische Staatsbürgerschaft erhielt. Den Namensbestandteil Katz durfte sie nicht tragen. Der zweite Vorname der erstgeborenen Tochter stammte vom Vornamen Abrahams Mutter.
1912 wurde die Familie in München Sendling ansässig. 1913 wurde Mia wieder schwanger. Die Familie wollte ihre Beziehung endlich legalisieren, aber das erforderliche Einverständnis des Vaters blieb weiterhin aus. Nach englischer Gesetzeslage war eine Heirat dort jedoch möglich. Daher reiste die Familie im Sommer 1913 mit der Eisenbahn über Frankfurt a. M. nach Hoek van Holland und per Dampfer nach Port of Harwich in Essex. Nach einem Mindestaufenthalt von einer Woche Badeurlaub konnten sie dort heiraten, sofern sie sich vor Abreise bereits angemeldet hatten. Mia besaß nun die ungarische Staatsbürgerschaft und den Familiennamen Sänger, ohne den für Juden reservierten Namensbestandteil Katz.
Ende 1913 wurde ihre Tochter Charlotte Mirjam Sänger, genannt Lotte, in München geboren, sie wurde katholisch getauft und erhielt die ungarische Staatsbürgerschaft.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde der ungarische Jude Abraham Katz-Sänger Anfang 1915 als ungedienter Landsturm eingezogen zum Heeresdienst im k. u. k. Infanterieregiment "Wilhelm I. Deutscher Kaiser und König von Preußen" Nr. 34 , 4. Batterie, 12. Kompanie. Etwa zur Geburt seines Sohnes Kurt Michael Sänger wurde Abraham Ende 1915 wegen Kurzsichtigkeit aus dem Militärdienst entlassen. Kurt erhielt die ungarische Staatsbürgerschaft und wurde katholisch getauft. Der zweite Vorname des erstgeborenen Sohnes stammte vom Vornamen Abrahams Vater.
Bis 1919 leistete Abraham Hilfsdienste bei der Feldpost in München. Die Famile Sänger lebte 1912 bis 1916 in der Valleystraße 23, bis 1930 in Augustenstraße 95 und 1931 bis 1933 in Heßstraße 58, wo Abraham überwiegend Einzelhandelsgeschäfte im Erdgeschoß betrieb.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Territorium Österreich-Ungarns neu verteilt. Ungarn musste auch das Gebiet abtreten, aus dem die Vorfahren von Abraham stammten ("Nagy-Sratoly"). Am 26. Juli 1921 trat der Trianon-Vertrag in Kraft, mit dem 27. Juli verloren alle fünf Angehörigen der Familie Sänger bzw. Katz-Sänger ihre ungarische Staatsbürgerschaft und wurden staatenlos, wie Millionen andere außerhalb der Gebietsgrenzen Lebende.

Die ärmlich lebende Familie, besonders die Schulkinder, war antisemitischen Anfeindungen, Pöbeleien und tätlichen Übergriffen ausgesetzt und erfuhr als Staatenlose eingeschränkte Rechte. Mia Sänger lernte den Physikstudenten Erwin Raisch kennen. In Pforzheim geboren, studierte Erwin seit 1909 Maschineningenieur an der Technischen Hochschule München. 1914 bis 1918 war er im Ersten Weltkrieg Offizier, anschließend an die TH München zurückgekehrt, wo er 1920 Diplomingenieur wurde und 1926 den Titel Dr.-Ing. erwarb. Er wohnte 1920 bis 1930 in Marsstraße 26.

Etwa 1926 spielte der 10-jährige Kurt bei seinem jüdischen Schulfreund Hans Breitenbach, als dessen Vater Josef Breitenbach Besuch erhielt von seiner neuen Freundin Nizza Dorn. Nizza, geb. Fonzo, stammte aus Mailand, ihre Mutter Marie hatte den Italiener Oreste Fonzo geheiratet und damit die italienische Nationalität erworben. Sie war nach der Scheidung mit ihrer jüngsten Tochter Nizza Fonzo wieder nach München zurückgekehrt. Nizza, ebenfalls italienischer Nationalität, hatte den Theologiestudenten Karl Dorn in München kennen gelernt, der wegen dieser Beziehung und des Zölibates sein Studium unmittelbar vor Abschluss abbrach und als Altphilologe promovierte. Aus der Ehe von Dr. Karl Dorn und Nizza, die dabei 1918 die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt, ging 1919 deren Tochter Paula Dorn hervor. Sie begleitete ihre geschiedene Mutter als 7-jährige in die Villa von Breitenbach und lernte dort auch Kurt kennen. 1934 emigrierte Josef Breitenbach mit seinem Sohn nach Paris und 1941 nach New York, wo er ein angesehener Fotokünstler surrealistisch anmutender Bilder wurde. Die Kinder Kurt und Paula verloren einander aus den Augen, als Studenten begegneten sie sich wieder.

Mia Sänger und Abraham Katz-Sänger ließen sich aufgrund der gesellschaftlichen Repressionen proforma scheiden, lebten aber weiterhin zusammen. Mia heiratete proforma Dr.-Ing. Erwin Raisch. Erwin adoptierte die drei Kinder, sie erhielten den Familiennamen Raisch, blieben aber weiterhin staatenlos, nur Mia Raisch erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft. 1931 bis 1935 lebte die sechsköpfige Famile Katz-Sänger und Dr. Raisch gemeinsam in Heßstraße 58.

Am 30. Januar 1933 erfolgte die Machtergreifung Hitlers, in der Folge nahm der Antisemitismus in der "Hauptstadt der Bewegung" gewalttätige Formen an. Ende des Jahres verstarb der Onkel von Erwin Raisch in Baden-Baden, der seinen behinderten Sohn Fritz Raisch dort pflegte. Abraham Katz-Sänger konnte kaum noch gewerblicher Tätigkeit nachgehen, Kunden blieben aus, in München wurde er offen angefeindet. Daher nahm er die Pflege von Fritz Raisch am 3. Januar 1934 in dessen Villa in Baden-Baden Yburgstraße 7 auf und wähnte sich in der Kurstadt relativ in Sicherheit.

Nizza Dorn hatte Mitte der 1930er Jahre den Schriftsteller und Kunsthistoriker Dr. phil. Eugen Diem kennengelernt. Josef Breitenbach musste 1934 mit seinem Sohn das Land verlassen, da Hans den Unmut der NSDAP erregt hatte. Eugen hatte 1931 den Literaturpreis der Volksbühne in München erhalten. Er arbeitete als Literaturkritiker für Zeitschriften, dabei erhielt er zu Ostern 1939 den Auftrag, eine Laudatio auf Mussolini zu verfassen. Als er sich weigerte, eine Huldigung im Sinn der NSDAP zu schreiben, wurde er aufs schwerste bedroht, den Artikel Mitte Mai abzuliefern. Dr. Diem floh sofort und wandte sich nach Zagreb, wo der pazifistische Soldat im Ersten Weltkrieg "Feinde" freundschaftlich getroffen hatte. Damit war er gleichzeitig seiner Einberufung entgangen. Allerdings wurde das Königreich Jugoslawien im April 1941 von der Wehrmacht eingenommen. Dr. Diem wurde unter falschem Namen aufgegriffen und als vermeintlicher Kroate zur Zwangsarbeit verpflichtet. Bereits im Mai 1941 traf der Deportierte in Berlin ein, um in einer Fabrik zu arbeiten. Dem Fabrikdirektor fielen dessen verbale Fähigkeiten auf, er machte den Zwangsarbeiter vom Balkan zum Privatlehrer seiner Kinder. Eugen konnte Nizza informieren und sie übersiedelte Mitte 1941 nach Berlin, um ihm nahe zu sein und ihn zu unterstützen. Ihre Wohnung und ihr Ladengeschäft überließ sie ihrer Tochter Paula, zu verkaufen gab es kaum noch etwas.

Am 9. November 1938 nahm die "Reichspogromnacht" ihren Anfang mit einer Hetzrede von Joseph Goebbels im Alten Rathaus in München. Am 10. November 1938 wurde Abraham in Baden-Baden um 7 Uhr früh von einem Polizisten und einem SS-Mann in seiner Wohnung abgeholt. Den ganzen Tag wurde er mit 80 weiteren jüdischen Einwohnern Baden-Badens öffentlich erniedrigt und misshandelt. Am nächsten Tag traf er im Konzentrationslager Dachau ein. Erst nach 33 Tagen der Torturen und Demütigungen wurde er am 13. Dezember 1938 unter der Auflage, sofort eine Kennkarte zu beantragen, aus der "Schutzhaft" entlassen.
Abraham beantragte am 21. Dezember 1938 bei der Polizeibehörde in Baden-Baden eine Kennkarte mit "J", die ihn als Juden ausweisen sollte. Am 1. Januar 1939 trat eine Namensänderungsverordnung in Kraft, Abraham muss sich nun als Abraham Isreal Katz-Sänger bezeichnen. Die Kennkarte mit dem "J" wurde am 13. Oktober 1939 mit Gültigkeit bis 13. Oktober 1944 ausgestellt, aber wegen Staatlosigkeit nicht ausgehändigt.
Am 31. August 1939 reiste Abraham nach Karlsruhe, um sich von der "amtlich anerkannten öffentlich gemeinnützigen Auswanderer-Beratungsstelle" beraten zu lassen. Am 1. September 1939, dem Tag des Überfalls auf Polen und Beginn des Zweiten Weltkrieges, reichte er einen Passantrag mit handgeschriebenem Lebenslauf bei der Polizeibehörde in Baden-Baden ein, um ein Visum für die USA beantragen zu können. Lichtbild und Lebenslauf wurden am 6. September 1939 der Gestapo übergeben; am 7. September 1939 kehrten die Urkunden zurück mit der Bemerkung, dass keine Bedenken gegen die Auswanderung bestünden. Am 12. September 1939 erklärte das Finanzamt II b in Baden-Baden keine Einwände gegen die Auswanderung zu haben, aber am 14. September 1939 wurden vom Oberfinanzpräsidenten Vorbehalte gegen die Auswanderung geltend gemacht. Der Fremdenpass 06231 G/40 wurde schließlich am 18. Juli 1940 in Baden-Baden ausgestellt, gestattete aber ausschließlich den Aufenthalt im Stadtkreis Baden-Baden. Die befristete Aufenthaltsgenehmigung konnte durch durch persönlichen Antrag erneuert werden.
Zum 1. November 1940 wurde Abraham durch die Gestapo nach Berlin deportiert. Abraham wurde vermutlich in verschiedenen finsteren oder stets beleuchteten Gestapo-Gefängnissen verhört und gefoltert, es gab davon viele, oft getarnt im Keller von Wohnhäusern, darunter das Gebäude der ehemaligen Behörde für Wohlfahrtswesen und Jugendfürsorge der Jüdischen Gemeinde, das sich in Berlin-Mitte in der Rosenstraße 2-4 dicht beim Alexanderplatz befand. Zuletzt gelangte Abraham (frühestens 15. April 1942) in das Deportationslager für Berliner Juden Große Hamburgerstraße 27.
Seinen Familienangehörigen in München war sehr wohl bekannt, dass die anstehende Massendeportation in ein Vernichtungslager im Osten führen sollte. Die Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 wurde zwar offiziell geheim gehalten, aber Informationen waren, insbesondere über BBC, durchgesickert. Die beiden Ingenieure Erwin und Kurt konnten den Volksempfänger durchaus verbessern, sie umhüllten den Empfänger mit geräuschdämmenden Matratzen und verlegten eine leistungsfähige Antennenanlage im Badezimmer aus weiß lackiertem Draht, welche stets zum Wäsche Aufhängen benutzt wurde. Der Untermieter Kanaga Sabapathy, Medizinstudent tamilischer Abstammung aus Kuala Lumpur mit dunkler Hautfarbe, beherrschte Englisch als Muttersprachler und konnte englischsprachige Sendungen problemlos verstehen. Nach der abstrusen NS-Rassenideologie galt Kanaga als "arisch", da "Inder" und somit Indogermane, also quasi Germane. Zu Kriegsbeginn hatte er seinen britischen Pass gegen einen deutschen tauschen können. Er war geblieben, weil er sich den Gefahren einer weiten Schiffspassage in verminten Gewässern nicht aussetzen wollte und weil er die Eroberungsgelüste Japans als bedrohlich für sein Heimatland einschätzte.
Zahlreiche jüdische Freundinnen und Freunde waren 1941 meist nachts abgeholt worden, manche waren im Vertrauen auf eine Umsiedlung sogar selbst zum Deportationsbahnhof bis nach Milbertshofen gekommen. Die Familie bot vielen Verfolgten zeitweise Schutz, einigen wenigen gelang tatsächlich die Flucht ins Ausland, daraus resultierende Brieffreundschaften mit Juden in USA und Israel bestanden bis nach der Milleniumswende.
Im Frühsommer 1942 bot sich also die allerletzte Hoffnung, den Vater vor der drohenden Ermordung zu bewahren. Seine beiden mutigen Töchter (gefährdet, da "jüdische Mischlinge ersten Grades" und zudem staatenlos) sowie cand. med. Kanaga Sabapathy reisten nach Berlin. Für Abrahams Sohn Kurt als männlicher "jüdischer Mischling ersten Grades" schien das Unternehmen jedoch zu gefahrvoll, um persönlich daran teil zu nehmen. In Berlin nutzten sie zunächst die Wohnung von Nizza Dorn als Stützpunkt. Den attraktiven jungen Frauen Else und Lotte Raisch gelang es, vorzusprechen und die Freilassung ihres Vaters in Aussicht gestellt zu bekommen, sie erhielten die sehr persönlich gemeinte Auflage "sofort zu verschwinden". Parallel stattfindende Proteste anderer betroffener Angehöriger übten wohl ebenfalls Druck aus. Nach bangem Warten traf man sich tatsächlich in der Pensionsadresse, in der sich Kanaga eingemietet hatte.
Abraham hatte bei seiner Entlassung den langersehnten Fremdenpass ausgehändigt bekommen. Wie geplant, wurde an seinem Mantel ein gelber Davidsstern angenäht, der Fremdenpass in die Manteltasche gesteckt und das so präparierte Kleidungsstück nachts an einer Spreebrücke deponiert. Es sollte nach einem Suizid aussehen, denn man wertete das Nachgeben der Nazis nur als temporär. Nun begann das grausige Versteckspiel ohne Ausweispapiere. Seine Töchter hatten vorsorglich das Passdokument ihres Adoptivvaters dabei. Zu dritt bestiegen sie ein Zugabteil nach München. Den Vater verhüllten sie unter Kleidung, bei Kontrollen legten sie ihre Ausweise vor und erklärten, dass ihr kränklicher Vater, der Dr.-Ing. Raisch, sehr erholungsbedürftig sei und unbedingt Schlaf benötige.
In München lebte Abraham Katz-Sänger für den Rest des Krieges untergetaucht, wieder inmitten seiner Familie mit Mia Raisch, Dr. Erwin Raisch, Else Raisch, Lotte Raisch, Kurt Raisch und Kanaga Sabapathy im 2. Stock der Theresienstraße 90, gegenüber der TH München und nur einige hundert Meter entfernt vom Braunen Haus (seit 1925 NSDAP-Reichsleitung). Wohnungsdurchsuchungen erfolgten, in aller Regel gegen drei Uhr nachts. Dabei sollte aufgrund der warmen Bettstellen die Zahl der Schläfer ermittelt werden. Die Strategie der Wohngemeinschaft bestand darin, dass sich zunächst Kanaga auffällig verhielt und als Schwarzer auch meist in den Fokus geriet. Währenddessen tauchte Abraham in einen großen Wäschekorb im Badezimmer, er wurde von seinen Töchtern mit Kleidung verhüllt. Sie kauerten sich sichtlich angsterfüllt wegen der plötzlichen Eindringlinge im Negligé auf dem Korbdeckel des Wäschepuffs. Ihr (Adoptiv)Vater Dr. Raisch stellte sich beschützend vor das Badezimmer, seine Mädchen mit Offiziersstimme zu verteidigen gegen die lüsternen Männerblicke.
Abraham durfte die Wohnung nicht verlassen, es war ihm nicht möglich, den Luftschutzkeller aufzusuchen. Mit zunehmenden Bombardierungen nahm Mia streunende Katzen auf, um sie in der Wohnung zu pflegen. Bei Fliegeralarm trugen sie und ihre Kinder die Katzen im großen Wäschekorb in den Keller, dabei ließen sie sich von Hausbewohnern gerne helfen. Als diese Prozedur von den anderen Mietern nicht mehr abgelehnt wurde, trugen sie bei jedem Alarm statt der Katzen Abraham im Korb über die drei Etagen. Kurt, der ebenfalls gefährdet war, blieb in den ersten Kriegsjahren meist in den oberen Stockwerken und konnte etliche ins Dachgeschoß eingedrungene Brandbomben räumen. Dabei half ihm oft ein weiterer Verfolgter, der zeitweise im Haus Unterschlupf gefunden hatte.
Ende 1944 oder Anfang 1945 wurde das Miethaus Theresienstraße 90 durch Bomben restlos zerstört. Fortan lebten seine Bewohner im meist dunklen Kellergeschoß unter dem Schutt. Bereits vorher war Kurt in die Wohnung von Paula gezogen, denn 1944 war er auf der Straße von Uniformierten verfolgt worden und konnte sich nur knapp in den verwinkelten Hinterhöfen und Treppengängen der Hochschule seinen Häschern entziehen. Kurt hatte sein Studium unmittelbar nach Kriegsausbruch mit einem Diplom abschließen können. Da er staatenlos war, war er nicht einberufen worden. Der junge Zivilist fiel auf in einer Stadt, in der Männer fehlten. Er war seit 1943 wachsendem Verfolgungsdruck ausgesetzt und musste sich weitgehend verborgen halten, musste jedoch keinen Davidsstern tragen. Nach Denunziationsdrohungen durch die Blockwartin des Mietshauses von Paula zogen die beiden Anfang 1945 von München nach Icking in das Wochenendhäuschen von Nizza, wo sie Ende April den Todesmarsch der Dachauer KZ-Häftlinge durch das Obere Isartal und die Befreiung durch die Amerikaner am 30. April 1945 erlebten.
In der Nachkriegszeit nahmen die Familienangehörigen Überlebende aus dem KZ temporär auf. Dr. med. Kanaga Sabapathy hatte seine Bestallung als Arzt noch 1943 erhalten, ab 1945 war er im IRO-Krankenhaus in Pullach augenärztlich tätig, wo insbesondere Flüchtlinge (Displaced Persons, DP) behandelt wurden. Nach dem Krieg lebte Abraham weiter in der Familie in einer unzerstörten Villa in München Bogenhausen, nun auch mit einem Enkel, an den er seine österreichisch geprägte Sprache weiter gab. Er nannte sich nun "arisierend" Adolph Sänger und arbeitete kunstgewerblich, indem er Figuren schnitzte. Abraham starb Ende 1950 zuhause.

Spätfolgen der Verfolgungstraumata
Über verwandtschaftliche Beziehungen wurde innerhalb der Familie zeitlebens Stillschweigen bewahrt, selbst die Geburtsjahre blieben geheim. Als Vater wurde von Abrahams Kindern weiterhin ausschließlich ihr Adoptivvater Erwin angesprochen. Fotos von Abraham sind im Familienbesitz nicht aufgefunden worden. Schrecknisse der Vergangenheit wurden tabuisiert und konnten teilweise nicht direkt an die Nachkommen weiter gegeben werden, vielfältige Erinnerungen starben mit den Zeitzeugen.
Als Abrahams Tochter Lotte zur Milleniumswende dement wurde, konnte sie in Erinnerung an die Ängste um ihren Vater nur noch einen einzigen Satz artikulieren: "der Papa kommt nicht mehr". Lange blieb diese Klage einer älteren verwirrten Frau für ihre Neffen inhaltslos.
Der einzige Enkel, den Abraham erleben durfte, erfuhr über etwa drei Jahrzehnte dokumentationsnah die Grauen der Konzentrationslager in nächtlichen Albträumen, ohne in der Jugend in dieser Detailtiefe darüber aufgeklärt worden zu sein. Die als Kleinkind aufgenommenen Gesprächsfetzen waren ausreichend informativ und reproduzierten erst nach Jahren die realistischen Schreckensszenarien.
Erst mit dem Tod von Abrahams Kindern machten sich einige ihrer Nachkommen Gedanken, sich auf die Vergangenheit zurück zu besinnen, um das rudimentäre Gedenken weiter geben zu können.
Else blieb zeitlebens staatenlos, unverheiratet wurde sie 101 Jahre alt.
Lotte heiratete Kanaga, von ihm erhielt sie die deutsche Staatsbürgerschaft.
Kurt heiratete Paula, damit wurde auch sie staatenlos, wie auch alle Kinder. Die Familie wurde erst auf Antrag und nach Überprüfung geistiger Gesundheit aller Mitglieder und Gebührenerhebung nationalisiert (obgleich seit Generationen in Deutschland ansässig).

Alle Beteiligten sind inzwischen ohne direkte Gewalteinwirkung gestorben, lebende Nachfahren blieben hier ungenannt.

Dieser Text wurde verfasst durch den ältesten Enkel von Abraham Katz-Sänger

Lebenslauf für die Beantragung eines Reisepasses, September 1939:

"Baden-Baden, 1. September 1939
Lebenslauf

Als Sohn des Herrn Michael Katz-Sänger, ungarischer Staatsangehöriger (zuständig Nagy-Sratoly) und seiner Ehefrau Fanny, geb. Weißenstern, bin ich Abraham Katz-Sänger Israel, jüdischer Religion, am 22. Dezember 1879 in Jerusalem geboren. Dort besuchte ich die Schule und war bis 1901 im Elternhaus. Ich reiste 1901 nach Deutschland und trat in Frankfurt/Main in die kaufmännische Lehre der Firma Anselm Kahn, Textilwaren en gros. Nach drei Jahren kam ich nach Würzburg und arbeitete in der Firma J. Ansbacher, Weingroßhandlung und später auch für die Weingroßhandlung Kellermann & Söhne in Bamberg. 1912 kam ich nach München, wo ich mich mit der Vermittlung von Immobilien & Hypotheken befasste. 1913 verheiratete ich mich mit einer Deutschen, Maria, geb. Fiehl, katholisch (arisch) und wohnte in München. Anfang 1915 wurde ich als ungedienter Landsturm zum Heeresdienst beim K&K Infanterie-Regiment 34, 4. Batterie, 12. Kompagnie eingezogen. Wegen Kurzsichtigkeit wurde ich Ende 1915 wieder nach der Heimat entlassen und meldete mich gleich zum Hilfsdienst auf die Feldpost, wo ich bis 1919 tätig war. Nach Ablauf der Feldpost nahm ich meine letzte Tätigkeit wieder auf, wurde jedoch in den Jahren 1921-1922 bei den anhäufenden Arbeiten der Post wiederholt zur Aushilfe herangezogen.
1921 wurde ich durch den Trianon-Friedensvertrag staatenlos.
1923 wurde ich geschieden und die aus der Ehe hervorgegangenen drei Kinder blieben bei der Mutter. 1932 übernahm ich in München ein Detailgeschäft von Weinen und Südfrüchten, welches ich bis Ende 1933 führte. Anfang 1934 kam ich auf Wunsch des verstorbenen Fritz Raisch nach Baden-Baden, Yburgstraße 7, um seinem Sohn Friedrich Raisch, der an Schizophrenie leidet, gesellschaftlich beizustehen. Meine frühere Frau ist wieder verheiratet und die Kinder sorgen für ihren Unterhalt."

Quellen/Literatur:

StABAD A23/33; StABAD A23/37; StABAD A5/Meldekarte; Gedenkbuch Bundesarchiv