geb. 24.12.1864 in Bühlertal, gest. 03.06.1940 in Grafeneck
Speck, Karl
Nesselhauf, Josepha, geb. Schnurr
Nesselhauf, Friedrich
Speck, Anna
Speck, Luise
Frankreichstraße 7 (aus Bühlertal kommend, 1901-1912, nach Achern (Illenau))
Am 03. Juni 1940 in Grafeneck ermordet
Ein leicht vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto in einem ovalen Passepartout, kaum größer als eine Zigarettenschachtel, zeigt ein geklinkertes Wirtschaftsgebäude im Stil der Gründerzeit. Davor sitzend oder stehend vierundzwanzig Frauen in langen Schürzen und mit Küchenutensilien. Auf der untersten Stufe der Treppe, an vorderster Stelle und etwas vorgerückt vor den anderen, sitzt sie - Stephanie Speck. Gekleidet mit einer weiten, hochgeknöpften Bluse mit großem Schottenmuster, Bauch und Beine unter einer groben Drillich-Schürze verborgen. Die Haare in der Mitte gescheitelt und nach hinten zusammengesteckt. Weiche Gesichtszüge, eine kleine, etwas rundliche Nase, Kinngrübchen und ein freundliches Lächeln. Ihre Augen scheinen direkt in die Kamera zu blicken. Dieses Foto ist das einzige Relikt, welches von Stephanie Speck erhalten geblieben ist. Auf der Rückseite hat Stephanies Tochter Anna handschriftlich den Hinweis an Stephanies Enkelin vermerkt: "Dies ist Deine Großmutter" und die Person auf dem Foto mit einem kleinen Kreuz markiert. Das Foto zeigt die als Küchenhelferinnen eingesetzten Insassen der Kreis- und Pflegeanstalt Hub (Ortsteil von Ottersweier). Es wurde vermutlich um 1930 aufgenommen.
Von Stephanie Speck gibt es keine persönlichen Briefe oder sonstige persönlichen Notizen. Alles, was wir über ihr Leben wissen, stammt aus dritter Hand, aus Verwaltungsakten oder ärztlichen Berichten. Daraus lässt sich nur erahnen, was für ein Mensch Stephanie Speck, geborene Nesselhauf, war.
Das Wetter im Oberrheintal war wieder frostig geworden und es wehte ein kalter NO-Wind, als Stephanie Speck kurz vor Weihnachten am 23. Dezember 1864 um sechs Uhr abends als zweites Kind von Friedrich Nesselhauf und seiner Ehefrau Josepha geb. Schnurr auf die Welt kam. Sie wurde in der katholischen Pfarrei St. Michael am zweiten Weihnachtstag 1864 um drei Uhr nachmittags getauft. Der Vater war das jüngste Kind seiner Eltern und stammte aus einer alten Rebbauernfamilie, welche aus Affental (bei Bühl) kam. Die Mutter war die älteste Tochter des Schuhmachermeisters Sebastian Schnurr aus Liehenbach (einem Nebental von Bühlertal), dem Ort, an welchem die Familie Schnurr seit Jahren Weinbau und Landwirtschaft betrieb. Friedrich und Josepha hatten im April 1863 geheiratet und lebten mit der zu diesem Zeitpunkt bereits verwitweten Mutter von Josepha in deren Elternhaus. Dies war ein einstöckiges Holzhaus mit Stall und Scheune unter einem Dach. Das Haus und einige Grundstücke gingen nach dem Tod von Josephas Mutter 1865 an Josepha und ihren Mann Friedrich über.
Der ältere Bruder von Stephanie, Matthias, wurde am 21. September 1863 ebenfalls in Liehenbach geboren. Dessen Zwillingsbruder verstarb bei der Geburt. Von den sechs jüngeren Geschwistern von Stephanie überlebten drei (Carolina, Joseph und Maria- Anna) das Kleinkindalter. Über Stephanies Kindheit und Jugend ist nichts überliefert. Ob und wie lange sie eine Schule besuchte ist ungewiss. Da sich die Dorfschule in Bühlertal nahe an der Abzweigung ins Liehenbachtal befand, ist es wahrscheinlich, dass sie zumindest die Grundschulzeit dort lernte. Außer ihrer Unterschrift auf der Heiratsurkunde und einer eidesstattlichen Erklärung im Rahmen eines Alimentationsprozesses ist kein schriftliches Zeugnis von ihr bekannt. Diese beiden Unterschriften zeigen aber, dass sie, wenn auch etwas ungelenk, Schreiben gelernt hat. Das Leben der Familie Nesselhauf dürfte mit dem frühen Tod des Vaters am 28. Oktober 1880 im Alter von nur 41 Jahren eine drastische Wende genommen haben. Beide Großeltern von Stephanie waren bereits gestorben, so dass die Mutter Josepha nun alleine mit ihren zu diesem Zeitpunkt noch lebenden fünf Kindern im Alter von 17, 15, 14, 12 und 10 Jahren den Weinbau, die Landwirtschaft und den Hof betreiben musste. Stephanies Bruder Matthias dürfte wohl die Rolle des "Mannes im Haus" übernommen haben. Noch zwanzig Jahre nach dem Tod des Vaters wird er eine wichtige Rolle in Stephanies Leben spielen.
Über das Leben von Stephanie und ihrer Geschwister in den zwanzig Jahren nach dem Tod des Vaters ist nichts überliefert. Dokumente spiegeln die angespannte finanzielle Lage der Familie wider. Stephanie scheint bis etwa 1901 in Bühlertal-Liehenbach (vermutlich im Elternhaus mit Mutter und Bruder) gelebt zu haben. Etwa ab 1901 arbeitete sie dann als Dienstmädchen im Hotel Ludwigsbad in Lichtental bei Baden-Baden. Dort dürfte sie den etwa sieben Jahre jüngeren Kutscher Karl Josef Speck aus Baden-Baden kennengelernt haben. Dessen Vater war Kutscher bei Graf Nikolai Nikolajewitsch Gagarin (ein aus St. Petersburg stammender Adliger, welcher ab den 1860er Jahren bis zu seinem Tod im Januar 1902 in Baden-Baden lebte). Nach mündlicher Überlieferung in der Familie soll auch Karl Speck als Kutscher bei Graf Gagarin beschäftigt gewesen sein, später dann bei Kutscher Reich in Baden-Baden.
Es entwickelte sich eine Liaison zwischen Stephanie und Karl Josef, aus welcher Stephanie mit Zwillingen schwanger wurde. Zu einer Heirat kam es zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht.
In den frühen Stunden des Karfreitags 1902, dem 18. März brachte Stephanie im Alter von 38 Jahren in ihrem Elternhaus die Zwillingsmädchen Maria und Anna zur Welt. Die Namen der beiden Kinder erinnern an die fast auf den Tag genau zehn Jahre früher verstorbene Maria-Anna, die jüngste Schwester von Stephanie, welcher sie vermutlich recht nahestand.
Was ein spätes Mutterglück hätte werden können, entwickelte sich jedoch bald zu einem Alptraum. Bereits zwei Wochen nach der Geburt starb Maria, die ältere der beiden Zwillinge. Der Kindsvater, Karl Josef Speck, kümmerte sich nicht um den Unterhalt von Mutter und Kind. Auf Betreiben des Waisenrates von Bühl wurde eine Alimentationsklage beim Amtsgericht Bühl gegen ihn eingereicht. Der Waisenrat beantragte dabei, die Vormundschaft über Anna Nesselhauf an Matthias Nesselhauf, Stephanies älteren Bruder, zu übertragen. Dies geschah mit der Begründung, dass die Kindsmutter "wegen geistiger Beschränktheit" nicht zur Vormundschaft über ihre Tochter geeignet sei. Obwohl Karl Josef Speck mehrfach erklärte, er wolle Stephanie heiraten, blieb er bezüglich des Termins vage und zahlte auch weiterhin keinen Unterhalt. Um für sich und ihr Kind zu sorgen, nahm Stephanie ihre Arbeit in Lichtental im Hotel Ludwigsbad wieder auf. Anna wurde deshalb in der Familie von Stephanies Cousine Eva Weck (geb. Schnurr) aufgenommen, welche selbst fünf Kinder im Alter von vier bis 16 Jahren hatte.
Am 27. August 1904 kam es dann doch zur Heirat von Stephanie Nesselhauf und Karl Joseph Speck in Baden-Baden. Die Eheleute wohnten in Lichtental in der Frankreichstraße 7, und auch die kleine Anna lebte bei ihren Eltern. In den darauffolgenden sechs Jahren brachte Stephanie in Baden-Baden weitere vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen, zur Welt. Von diesen starben alle bis auf das jüngste - Luise , genannt Lies, geboren am 14. Februar 1910 - innerhalb der ersten zwei Lebensjahre an Diphterie.
Stephanies Zeit in Baden-Baden war von häufigem Wohnungswechsel, dem Verlust der Tätigkeit von Karl Josef Speck als Kutscher sowie allgemein prekäre Lebensbedingungen gekennzeichnet. Dies war wohl auch durch die Alkoholabhängigkeit des Ehemann Karl Joseph bedingt, welche ungefähr 1912 zu seiner Entmündigung führte.
Kurz nach der Geburt der jüngsten Tochter verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand von Stephanie so stark, dass sie in den darauffolgenden zwei Jahren regelmäßig im Spital Baden-Baden behandelt werden musste. Damit begann ihr Leidensweg in diversen Betreuungsanstalten.
Mit 48 Jahren wurde Stephanie Speck auf Antrag des Armenrates Baden-Baden erstmals stationär in eine Anstalt eingewiesen. Am 22. August 1912 brachten zwei Mitarbeiter des Armenrates Baden-Baden sie in die Großherzogliche Badische Heil- und Pflegeanstalt Illenau bei Achern. Die Krankenakte aus den Jahren 1912 bis 1914 vermerkte als Diagnose "prim. Demenz", was später in "Imbezillität" geändert wurde. Der Anamnesebogen nennt dabei als Beginn der Krankheit "in früher Jugend", ohne weitere Details zu geben, und verweist als Anfang der akuten Erkrankung auf die vorangegangenen zwei Jahre. Dies legt einen zeitlichen und womöglich ursächlichen Zusammenhang mit der Geburt des jüngsten ihrer sechs Kinder nahe. Auch die sechs Entbindungen innerhalb von acht Jahren sowie der Tod der meisten ihrer Kinder dürften einen Einfluss auf die mentale Gesundheit von Stephanie gehabt haben. Der untersuchende Arzt beschreibt Stephanie als stark verwirrt. Sie sei von großer Unruhe getrieben, beschimpfe ihre Mitmenschen laut, führe Selbstgespräche mit Halluzinationen und leide unter Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit und Kraftlosigkeit. Ihre Schwerhörigkeit und ihre undeutliche Aussprache scheinen es dem Arzt unmöglich gemacht zu haben, sich mit ihr zu unterhalten und ein fundiertes Anamnesegespräch zu führen. Ob es sich bei dieser Schwerhörigkeit um die Folge einer Erkrankung im Kindes- oder Jugendalter handelte (seinerzeit kam es häufig zu Masern-Epidemien oder Ausbrüchen von Meningitis, beides mögliche Quellen von Gehörschäden) oder ob diese seit Geburt bestand, ist unklar. In jedem Fall wird sie zum Eindruck der "geistigen Beschränktheit" von Stephanie beigetragen haben. Die Begleitpersonen des Armenrates berichteten dem Arzt, dass Stephanie Speck schon jahrelang in Baden-Baden auffällig gewesen sei. Sie soll sich selbst und ihren Haushalt völlig vernachlässigt haben und war auf die Unterstützung des Armenrates von Baden-Baden angewiesen.
Nach ihrer Einweisung scheint sich ihr Zustand nur unwesentlich verbessert zu haben. Zwar erwähnt die Krankenakte, dass sie ruhiger geworden sei, doch wird von keiner grundlegenden Besserung berichtet. Stattdessen wurde bereits nach einem halben Jahr angeregt, sie dauerhaft in die Kreis-Pflegeanstalt (KPA)Hub bei Ottersweier einzuweisen. Dieser Antrag wurde zuerst abgelehnt, dann aber, nach einem erneuten Antrag, im Sommer 1914 bewilligt.
Am 22. Juni 1914, einem kühlen und regnerischen Sommertag, wurde Stephanie in die KPAHub verlegt, welche für die nächsten 25 Jahre ihre Heimat bleiben sollte.
Diese "Anstalt für Schwache, Bedürftige und Behinderte" war 1873 in einem ehemaligen Kurbad gegründet worden. Durch Um- und Erweiterungsbauten bot es 1914 für 885 Bedürftige Wohn- und Lebensraum. Zur Anlage gehörten ein Gutshof und reichlich landwirtschaftliche Flächen, so dass sich die Anstalt zu wesentlichen Teilen selbst versorgen konnte und auf vielfältige Weise Beschäftigung für die dort untergebrachten Menschen bot. Jeder der Pfleglinge sollte seinen Fähigkeiten gemäß zur Selbstversorgung beitragen. Hierzu boten die diversen Wirtschaftsgebäude mit Küche, Wäscherei, Metzgerei, Molkerei, Gärtnerei, Schusterei, Schlosserei und Schreinerei ausreichend Gelegenheiten. Das moderne Konzept der Arbeitstherapie und die gute ärztliche und pflegerische Ausstattung führte dazu, dass sich der Zustand vieler Pfleglinge - selbst der hoffnungslosen Fälle- verbessert haben soll. Das Leben in der KPA Hub war durch einen klaren Tagesablauf geregelt. Die Ernährung war einfach, aber ausreichend und wurde durch selbst erzeugtes frisches Gemüse, Obst und Fleischprodukte aus dem zur Anstalt gehörenden Gutshof saisonal ergänzt. Zum Frühstück um 7:00 gab es Milchkaffe mit Zucker. Zum Mittagessen um 12:00 gab es an vier Tagen der Woche Fleisch mit Beilagen und an drei Tagen Mehlspeisen oder Hülsenfrüchte. Zum Abendessen gab es ½ Liter Mehl- oder Brotsuppe. Zu allen Mahlzeiten gab es Brot. Bewohner, welche arbeiteten, erhielten zwischendurch ein Glas Wein oder Kaffee mit Milch. Auch außerhalb der bereits genannten Arbeitsbereiche wurden den Pfleglingen zeitweise handwerkliche Beschäftigungen angeboten. So ist beispielweise die Herstellung von Papierblumen zu dekorativen Zwecken belegt. Zusätzlich zu einer etwas umfangreicheren Nahrungsration erhielten die arbeitenden Pfleglinge ein kleines Taschengeld zwischen 1,50 RM und 4,00 RM im Quartal. Auch für Freizeitgestaltung und Unterhaltung war durch gemeinsame Feiern, Konzerte und Aufführungen gesorgt.
Über Veränderungen in Stephanies gesundheitlichem Zustand während ihrer Zeit in der KPA Hub ist so gut wie nichts bekannt, da ihre Krankenakte nicht erhalten geblieben ist. Sicher ist nur, dass sie mindestens um 1930 als Helferin in der Küche tätig war und somit zu ihrer früheren beruflichen Tätigkeit zurückgefunden hatte, wie das bereits oben erwähnte Foto belegt.
Wenige Monate nach der Verlegung Stephanies in die Pflegeanstalt trat das Deutsche Reich in den ersten Weltkrieg ein. Dies hatte auch für die Pfleglinge erhebliche Folgen, da eine Reihe der Pfleger zum Kriegsdienst eingezogen wurden und ein Teil der landwirtschaftlichen Produkte konfisziert wurde. Viele Produkte, die nicht selbst erzeugt werden konnten, waren kaum noch zu besorgen. Der Gesundheitszustand vieler Pfleglinge verschlechterte sich, und die Sterberate stieg stark an.
Eine weitere Veränderung ergab sich, als 1919 Dr. Otto Gerke, ein Militärarzt, zum neuen Leiter der Anstalt berufen wurde. Dr. Gerke scheint stark von den bereits in der Weimarer Republik aufkommenden Nützlichkeitsüberlegungen in der Psychiatrie überzeugt gewesen zu sein, denn er vertrat konsequent das Konzept der "Billigmedizin". Dennoch gelang es ihm, den Betrieb trotz Inflation und Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren stabil zu halten, die Qualität der Betreuung zu verbessern und die Einrichtung zu modernisieren und zu erweitern. Pfleger und Angehörige lobten seinen liebevollen Umgang mit den Patienten, und er war anscheinend bei diesen sehr beliebt. Einige nannten ihn gar "Vatterle".
Seine Sympathien für den Nationalsozialismus zeigten sich aber bereits deutlich in dem von ihm für das 60-jährige Bestehen der Anstalt 1933 geschrieben Buch "Die Hub - Geschichte des alten Hubbades", als er "den neuen Geist" des Nationalsozialismus bejubelt: "Auch in die Hub ist er [der neu Geist] siegreich eingedrungen und hat Beamtenschaft wie Pfleglinge ergriffen. Ein auf dieser neuen nationalsozialistischen Grundlage stehender Verwaltungsrat hat sich gebildet …. Wollen wir wünschen, dass all das Neue, das so viel hoffnungsvoll Entwicklungsfähiges in seinem Schoße birgt, über unsere Anstalt Hub hinaus zum Segen sein möge für unsere gesamte Heimat."
Otto Gerke war, wie sich herausstellte, stark von der Ideologie der Eugenik beeinflusst. Und bereits im Jahresbericht für die Kreisversammlung 1934 lässt er sich mit folgenden Worten zu Eugenik und Zwangssterilisierung aus: "Das Menschenmaterial unserer Anstalt ist ein sprechender Beweis für die bittere Notwendigkeit des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Diese wird sich auch in der Hub auswirken und eine große Anzahl von Pfleglingen durch Sterilisierung verhindern, ihre schlechte Erbmasse weiter zu vererben." Dr. Gerke wurde so seit dem Beginn des Dritten Reiches zum bereitwilligen Funktionsträger nationalsozialistischer Politik psychisch und geistig Kranken gegenüber, zum Rädchen im Getriebe, das sein ärztliches Gewissen fiskalischen Interessen und den Zweckmäßigkeitserwägungen eines Terrorregimes unterwarf.
Es verwundert daher nicht, dass er, nachdem er im Herbst 1939 durch seinen Vorgesetzten Ministerialrat Dr. Ludwig Sprauer vom badischen Innenministerium über die Ziele des Führererlasses zur "Euthanasie" in Kenntnis gesetzt wurde, diesen bereitwillig und mit großem Engagement unterstützte. Hatte er doch, obwohl erst seit 1937 Mitglied der NSDAP, bereits in seinem Buch über die Hub moralische Bedenken relativiert. "... Gegenüber den vielen unseligen Minderwertigen von Geburt und Vererbung, gegenüber diesen Untermenschen, die sozusagen ,zum Leben verurteilt' sind und die nie wertvolle Mitmenschen werden können, gibt es gewisse Grenzen des Mitleids, die von dem höheren Gesichtspunkt des Lebensrechtes der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen diktiert sein sollten . ..."
Anfang Februar 1940 erhielt Gerke von Sprauer einen Erlass zur "Verlegung von Anstaltsinsassen im Rahmen besonderer planwirtschaftlicher Maßnahmen" wie die offizielle Tarnbezeichnung für die Deportationen psychisch kranker und Behinderter Menschen lautetet. Er begleitete sogar den ersten Transport von 74 Patienten aus der KPA Hub am 9. Februar 1940 nach Grafeneck und berichtete anschließend an Regierungsdirektor Sprauer. Insgesamt folgten bis zum 21. Oktober 1940 noch zehn weitere solche Transporte zur Tötungsanstalt Grafeneck bei Münsingen in der Nähe von Reutlingen.
Wie aus den Zeugenberichten in den späteren Strafprozessen hervorgeht, dürfte sich die letzte Fahrt von Stephanie Speck in etwa so zugetragen haben:
Am Freitag, den 31. Mai 1940 erhielt Gerke zum vierten Mal einen Erlass vom Ministerialrat Dr. Sprauer, beginnend mit den Worten "Bezug nehmend auf meinen Erlass vom 28.XI.39 ordne ich die Verlegung von 17 Kranken aus der beigefügten Liste an. Die Abholung erfolgt in meinem Auftrag am Montag den 3.VI.40 durch die Gemeinnützige Krankentransport G.m.b.H." Diesmal ist es eine sehr kleine Gruppe von 17 Personen. Gerke reicht diese Liste an die Oberin Anna Obert zur Bearbeitung weiter. Sie informiert am 2. Juni in der Mittagspause die Pflegerinnen über die verordnete Verlegung der benannten Frauen und bittet sie, die Kleider und persönlichen Gegenstände zusammenzupacken und die entsprechenden Krankenakten zusammenzustellen. Sie selbst händigt den Frauen etwas Briefpapier und Postkarten aus, damit sie ihr später schreiben könnten (Bei einer Vernehmung im Jahr 1948 gab sie später zu Protokoll, dass sie nie eine Antwort erhalten und sich schon damals darüber gewundert habe). Dann fährt am Montagvormittag des 3. Juni 1940 ein roter Reichspostbus der GeKraT GmbH vor. Die 17 Frauen werden zum Bus gebracht. Gerke ist anwesend und spricht mit ihnen. Dabei schreibt er jeder mit Kopierstift eine Nummer auf die Schulter oder den Rücken. Da sie ihm vertrauen, wirkt seine Anwesenheit beruhigend auf die Frauen. Über den wahren Zweck dieser Verlegung werden sie nicht informiert. Ihre Namen werden mit der Liste, welche der Fahrer des Busses dabeihat, verglichen. Mit im Bus sind auch zwei Pflegerinnen, welche die Patientinnen auf der Fahrt nach Grafeneck betreuen sollen. Ihnen wird ein Umschlag mit den Krankenakten übergeben. Die jüngste Patientin der Gruppe ist Anna Scheud (44 Jahren) aus Bruchsal, die älteste Pauline Flösser (81 Jahre) aus Rastatt. Anna Speck ist mit 78 Jahren die zweitälteste in diesem Bus. Sie soll (laut Auskunftsbogen der Patientenakte der Reichskanzlei) inzwischen unter starker Demenz leiden. Dann macht sich der Bus auf die etwa 150 km lange Fahrt zum Schloss Grafeneck.
Nach stundenlanger Fahrt nähert man sich dem Ziel. Abgelegen, in einer waldigen Gegend der schwäbische Alb, zeigt sich auf einem Bergrücken, etwa 50 Meter oberhalb der Talsohle, das von einer mächtigen Stützmauer umgebene Schloss Grafeneck aus dem 16. Jahrhundert. Noch ein Jahr zuvor gehörte es der evangelischen Samariterstiftung, welche hier eine Betreuungseinrichtung für Behinderte ("Krüppelanstalt") betrieben hatte. Im Oktober 1939 hatte es die SS beschlagnahmen lassen, vorgeblich um ein "Seuchenlazaretts" einzurichten. Von all dem hatten die Patientinnen im Bus keine Ahnung.
Der Bus biegt von der Hauptstraße ab und überquerte eine Bahnlinie. Kurz danach ist eine Verbotstafel mit der Aufschrift "Betreten wegen Seuchengefahr verboten" zu sehen. Noch bevor die Auffahrt zum Schloss beginnt, sperrt ein Schlagbaum die Straße, daneben ein Wachhaus und dahinter eine Holzwand mit einem großen Tor, so dass Busse und LKW passieren können. Der Wachmann erkundigt sich beim Fahrer nach dem Grund des Einlasses, führt ein kurzes Telefonat zur Ankündigung des Transportes und öffnet das Holztor. Das dahinterliegende Areal ist von einem Bretterzaun umgeben, der die Anlage den Blicken Außenstehender entzieht. Uniformierte mit Hund und Schusswaffe patrouillieren. Etwa dreihundert Meter weiter hält der Bus schließlich vor einer Baracke. Als die Frauen aussteigen, sehen sie nur Wände und Bretterzäune. Sie werden aufgefordert, in das Gebäude zu gehen.
Was dann geschah berichtetete der Assistenzarzt Paul Kraus aus der psychiatrischen Anstalt Zweifalten dem Sonderermittler der französischen Streitkräfte, Robert Poitrot, im Sommer 1945:
"Von einem Augenzeugen (Arzt) wurde mir der Hergang der eigentlichen Exekution folgendermaßen geschildert: Gleich nach dem Eintreffen der Transporte wurden die Kranken einer letzten Überprüfung anhand der Krankengeschichten durch zwei Ärzte unterzogen. Nackt mussten die Kranken vor dem Arzt erscheinen, man habe im Voraus die gewählte "Todesursache" aktenmäßig vermerkt oder gegebenenfalls die Zurückschickung des Kranken aus irgendwelchen Gründen veranlasst. Dann wurden die zur Vernichtung bestimmten Kranken sofort in einen Raum verbracht, der mit einem Röhrensystem versehen war und hermetisch abzuschließen war. Durch Gucklöcher in der Türe habe man aber alle Vorgänge beobachten können. In diesen Raum brachte man [bis zu] 75 Mann. Nach ¾ Stunden konnte der Raum bereits wieder geöffnet und die Leichen entfernt werden. Der Tod war unterdessen durch Kohlenoxydvergiftung eingetreten. Die nackten Leichen wurden dann der Verbrennung auf Rosten zugeführt, und zwar schmorte man immer eine möglichst fette Leiche mit zwei mageren. Die Asche wurde später in einer Urne unter Angabe irgendeiner [erfundenen] Todesursache zugesandt."
Das in Grafeneck extra eingerichtete Sonderstandesamt versandte gefälschte Sterbeurkunden, zusammen mit sogenannten "Trostbriefen". In diesen Briefen hieß es, dass der Tod bei diesem schweren Leiden eine Erlösung für die Betroffenen war und dass die Einäscherung aus gesundheitspolizeilichen Gründen umgehend zu erfolgen hatte.
Aus Erzählungen in der Familie von Stephanies Tochter Anna ist bekannt, dass auch sie einen solchen Brief erhalten hatte, mit dem Hinweis, dass eine Urne zugesandt werden könne, wenn sie eine Bescheinigung über den Erwerb einer Grabstätte erbringe. Anna bezweifelte aber zu Recht, dass es sich bei solch einer Urne tatsächlich um die sterblichen Überreste der Mutter handle. Sie soll gesagt haben: "Wir wissen gar nicht, ob das wirklich die Asche von der Mamma ist. Erst bringen sie sie um und dann sollen wir auch noch für ein Grab zahlen, das gar nichts mit ihr zu tun hat."
Epilog:
"To forget the victims means to kill them a second time. So I couldn't prevent the first death. I surely must be capable of saving them from a second death." (Elie Wiesel)
Von den 859 Patienten (Stand 4. Juni 1938) der KPA Hub wurden insgesamt 526 ermordet, 31 von diesen Opfern stammten aus oder lebten zeitweise in Baden-Baden. Stephanie Speck war eine dieser Menschen. Zur Erinnerung verlegte der Künstler Gunter Demnig am 17. März 2023 in der Frankreichstraße einen "Stolperstein" für sie.
Die beiden Töchter von Stephanie Speck überlebten die Zeit des Nationalsozialismus. Anna war bereits 1921 nach Freiburg umgezogen, heiratete dort 1934 und gründetet eine Familie. Sie starb 1966 in Freiburg. Luise, genannt Lies, verbrachte Kindheit und Jugend in verschiedenen Pflegefamilien und Einrichtungen in der Umgebung von Baden-Baden, in welchen Sie eher sozial vernachlässigt wurde und nur eine ungenügend Schulbildung erfuhr. Anschließend war sie ab 1927 bei diversen kirchlichen Einrichtungen in Südbaden untergebracht, zuletzt im der St.-Josephsanstalt in Herten bei Rheinfelden, von wo aus sie 1936 in die Badische Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen überwiesen wurde. Dort wurde sie durch eine Zwangssterilisierung 1937 zu einem Opfer des NS-Staates im Rahmen des "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Nach dem Krieg heiratete sie 1955 in Baden-Baden und lebte ab den späten 1950er Jahren ebenfalls in Freiburg, wo sie 1979 starb.
Der Ehemann von Stephanie Specks Urenkelin recherchierte und verfasste gemeinsam mit seiner Frau diese Lebensgeschichte
KA RA 1Hub B1; StAF G535/2 P. 209 Bühlertal; StAF B 882/1 Nr. 555; StAF B 821/2 Nr. 25557; BArch R179/25518, GLAK 436 Nr. 463; Personenstandsregister Baden-Baden und Bühlertal;
Adalbert Metzinger, Dr. Otto Gerke: Seine Rolle bei der Durchführung der Euthanasie in der Anstalt Hub, in: Heimatbuch Rastatt 2005 S. 117-129.
Hier wohnte
STEPHANIE SPECK
GEB. NESSELHAUF
JG. 1864
SEIT 1912 MEHRERE "HEILANSTALTEN"
"VERLEGT" 3.6.1940 GRAFENECK
ERMORDET 3.6.1940
"AKTION T4"
Stolperstein Frankreichstraße 7, verlegt am 17. März 2023